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Therapiemöglichkeiten bei Autismus
Da Autismus-Spektrum-Störungen nicht ursächlich medikamentös behandelbar sind, stehen nicht-medikamentöse Therapien im Vordergrund. Insbesondere Verfahren, die kognitive und sprachliche Fähigkeiten bessern, die soziale Interaktion und Kommunikation fördern und den Betroffenen somit ein Leben im sozialen Gefüge erleichtern, haben bei der Autismus-Therapie einen hohen Stellenwert.
Behandlung in Autismus-Therapiezentren
Da jede ASS sich anders manifestiert, brauchen Betroffene ein flexibles, möglichst breites Angebot, das sie optimal fördert. Autismus-Therapie-Zentren (ATZ) sind spezialisierte Einrichtungen zur ambulanten Betreuung, Therapie und Begleitung von Menschen mit einer ASS und ihres familiären Umfelds. Sie ermöglichen eine ganzheitliche, an den individuellen Bedürfnissen angepasste Förderung. In der Behandlung kommt ein multimodales Therapiekonzept zum Einsatz.
Folgende Angebote sind u. a. möglich:
- Diagnosestellung
- Beratung und Information zur Erkrankung (Psychoedukation)
- Verhaltenstherapie, Kommunikations- und Sozialtraining
- Aufbau und Förderung kindlichen Spielverhaltens
- Elterntrainings
- Kooperation mit anderen Einrichtungen der Fremdbetreuung wie z. B. Kindertagesstätten (Kitas), Kindergärten, Schulen
ATZ behandeln Betroffene aller Altersklassen. Aktuell sind in Deutschland etwa 135 Einrichtungen bundesweit gelistet.1 Manche haben bestimmte Behandlungsschwerpunkte.
Kostenträger
Bei einer nachgewiesenen ASS können die Kosten von einem der Träger der Eingliederungshilfe übernommen werden.
Der Bundesverband Autismus Deutschland e. V. bietet eine bundesweite Einrichtungssuche an. Online abrufbar unter: https://www.autismus.de/ueber-uns/struktur-des-bundesverbandes/regionalverbaende-und-mitgliedsorganisationen.html
Psychoedukation
Grundlage jeder Therapie ist die Aufklärung und Beratung der Betroffenen und ihrer Angehörigen, die sogenannte Psychoedukation. Psychoedukationskurse finden als Einzel- oder Gruppenkurse unter fachtherapeutischer Leitung statt. Sie informieren über die Störung und fördern das Verständnis und den selbstverantwortlichen Umgang mit einer ASS. Es gibt zudem die Möglichkeit, zum Erfahrungsaustausch und zur Kontaktaufnahme mit Selbsthilfegruppen.2
Bei Kindern und Jugendlichen spielt die Einbindung der Familie in die Therapie eine besonders wichtige Rolle. Durch Maßnahmen wie der Analyse konkreter Problemsituationen, der Verminderung negativer Erfahrungen in der Eltern-Kind-Beziehung sowie der Beeinflussung der Verhaltensprobleme durch positive/negative Konsequenzen, soll ein besserer Umgang mit der Störung entwickelt werden.
Hinweis: Eine kontinuierliche Betreuung und Beratung der Familien und des übrigen sozialen Umfelds (z. B. Erzieher/Lehrer) ist sinnvoll, um den Umgang mit der Störung bei allen Beteiligten positiv zu beeinflussen.
Informationen zu Psychoedukationskursen gibt es bei Ärzten, Therapeuten und Selbsthilfegruppen. Viele Krankenkassen übernehmen auch die Kosten. Es lohnt sich daher, beim Versicherer nachzufragen.
Psychotherapie
Bei einer ASS werden vor allem Verfahren der Verhaltenstherapie angewandt. Hier lernen die Betroffenen, mit ihren Besonderheiten und Problemen bestmöglich umzugehen. Sie erfahren beispielsweise, wie sie ihre Handlungen besser steuern und ein angemesseneres Verhalten im Umgang mit anderen entwickeln.
Um die oftmals belastete Familiensituation zu verbessern, kann auch eine gemeinsame Familientherapie hilfreich sein. Tiefenpsychologische und psychoanalytische Behandlungen können zusätzlich sinnvoll sein, um Begleitstörungen wie Ängste oder Depressionen zu lindern oder die Ich-Struktur der Patienten zu festigen.
Behandlungsumfang
Alle Behandlungsverfahren können in einzel- oder in gruppentherapeutischen Sitzungen erfolgen. Sowohl Verhaltenstherapie als auch psychoanalytisch begründete Verfahren sind bezüglich der Kostenerstattung seitens der Leistungsträger auf maximal 3 Behandlungsstunden pro Woche begrenzt.
Probestunden
Ein gutes, vertrauensvolles Verhältnis zum Therapeuten und die passende Therapieform sind für den Behandlungserfolg zentral. Daher können Betroffene Probestunden in Anspruch nehmen. Bei der analytischen Psychotherapie sind 8, bei den anderen Therapieformen 5 Probestunden möglich. Diese werden nicht auf die Therapie angerechnet.
Behandlungsdauer
Die Länge der Therapie ist abhängig von der Therapieform. In der Kurzzeittherapie können z. B. 12 Stunden als Einzeltherapie oder bis zu 12 Doppelstunden als Gruppentherapie, in der analytischen Psychotherapie bis zu 300 Stunden verschrieben werden.
Bei allen psychotherapeutischen Behandlungsformen können die Therapeuten und ihre Patienten eine Verlängerung beantragen, wenn der Therapieverlauf zeigt, dass das Behandlungsziel im ursprünglichen Zeitrahmen noch nicht, aber mit einer Verlängerung sehr wahrscheinlich erreicht werden kann.
Eine Umwandlung von Kurzzeit- auf Langzeittherapie ist möglich. Dabei werden die bereits geleisteten Stunden auf die Langzeittherapie angerechnet. Eine Therapieeinheit dauert mindestens 50 Minuten.
Kostenübernahme
Für Menschen mit ASS ist bislang keine Psychotherapie vorgesehen, die von den Krankenkassen übernommen werden würde. Daher ist die gesetzliche Krankenversicherung nicht verpflichtet, die Kosten einer Therapie zu tragen. Stattdessen werden spezifische Interventionen in Autismus-Therapiezentren (siehe oben) durch die Träger der Eingliederungshilfe oder Kinder- und Jugendhilfe finanziert. Lediglich die Behandlung möglicher Begleitstörungen, wie Depressionen oder Angststörungen kann eventuell über die Krankenkasse abgerechnet werden. In diesem Fall sollte eine Kostenübernahme im Vorfeld mit der zuständigen Krankenversicherung abgeklärt werden.
Psychotherapieanbieter
Erwachsene Patienten, Kinder und Jugendliche haben die Wahl zwischen verschiedenen Therapeuten. Bei psychologischen Therapeuten handelt es sich um Diplompsychologen, studierte Pädagogen, Sozialpädagogen oder Sozialwissenschaftler, die sich zum Psychotherapeuten weitergebildet haben. Ärztliche Psychotherapeuten sind (Fach-) Ärzte, die eine Ausbildung bzw. eine Zusatzweiterbildung im Bereich Psychotherapie oder Psychoanalyse absolviert haben; diese dürfen im Gegensatz zu psychologischen Psychotherapeuten auch Medikamente (z. B. Psychopharmaka) verschreiben. Kinder- und Jugendpsychotherapeuten/-psychiater dürfen keine Erwachsenen behandeln.
Hinweis: Auf der Internetseite des Gemeinsamen Bundesausschusses können Betroffene die „Richtlinien über die Durchführung der Psychotherapie“ nachlesen: https://www.g-ba.de/informationen/richtlinien/20/
Sozialtraining
Menschen mit ASS haben häufig Probleme bei der sozialen Interaktion mit ihren Mitmenschen. Spezielle Sozialtrainings können dabei helfen, Kompetenzen in den Bereichen soziale Interaktion, Kommunikation und Verhalten zu entwickeln bzw. zu verbessern.3 Organisiert werden Sozialtrainings z. B. von niedergelassenen Psychologen, Autismus-Zentren oder Autismus-Selbsthilfegruppen.
Ergotherapie
Einigen Kindern und Jugendlichen mit ASS kann eine Ergotherapie helfen. Ziel der Therapie ist es, Kommunikation, Wahrnehmung und Sozialverhalten zu fördern. Es gibt Verfahren, wie zum Beispiel TEACCH (die Arbeit mit visuellen Strukturierungsanweisungen und Gliederungshilfen), die speziell für autistische Menschen entwickelt wurden, um ihre Wahrnehmung und soziale Empathie zu fördern. In speziellen Rollenspielen üben die Kinder den sozialen Umgang mit Gleichaltrigen. Oftmals beziehen die Therapeuten die Eltern mit ein. Gemeinsam vereinbaren sie eine konkrete Problem- und Zielanalyse, die individuell auf das Kind zugeschnitten sein sollte.
Wann erhalten Betroffene Ergotherapie?
Eine Ergotherapie gilt als Heilmittel und muss vom behandelnden Arzt verordnet werden. Eine Verordnung umfasst in der Regel 10 Behandlungseinheiten. Eine Therapiemaßnahme dauert üblicherweise zwischen 30 und 60 Minuten. In welchem Abstand die Maßnahmen erfolgen, hängt von der individuellen Situation des Betroffenen ab.
Die Verordnung des Arztes bedarf zwar keiner Genehmigung durch die gesetzliche Krankenkasse, jedoch muss die Maßnahme innerhalb einer bestimmten Frist begonnen werden. Ergotherapie muss innerhalb von 14 Tagen nach Ausstellung der Verordnung beginnen. Danach verliert die Verordnung ihre Gültigkeit, es sei denn auf der Verordnung ist ein späterer Behandlungszeitpunkt eingetragen.
Kostenübernahme
Die Kosten für eine Ergotherapie übernimmt in der Regel die gesetzliche Krankenkasse. Ab Vollendung des 18. Lebensjahres muss der Patient eine Zuzahlung von 10 % an den Leistungserbringer leisten, plus 10 € pro Verordnung, jedoch nicht mehr als die tatsächlich entstehenden Kosten. Unter bestimmten Voraussetzungen ist eine Befreiung von der Zuzahlung möglich.
Hinweis: Auf der Internetseite des Gemeinsamen Bundesausschusses können Interessierte die gesetzlichen Richtlinien in Bezug auf Ergotherapie als Heilmittel nachlesen: www.g-ba.de/informationen/richtlinien/12/
Logopädie
Bei vielen Menschen mit einer ASS sind Sprachentwicklung und Sprachverständnis beeinträchtigt. Manche sprechen überhaupt nicht oder können nur rudimentär mit anderen kommunizieren. Sie verwenden nur kurze Sätze, echolalieren (ständiges Wiederholen des Gesagten) oder artikulieren sich in stereotypen, häufig auswendig gelernten Floskeln. Oftmals ist der Wortschatz stark reduziert und beim Sprechen kommt es zu grammatikalischen Auffälligkeiten.4 In solchen Fällen können logopädische Therapien helfen, die Sprachprobleme zu reduzieren. Darunter fallen z. B. folgende Maßnahmen:
- Generelle Sprachanbahnung
- Auf- und Ausbau von kommunikativen Fähigkeiten, z. B. Herstellung von Blickkontakt, Wahrnehmung des Gegenübers, Äußerung von eigenen Wünschen und Bedürfnissen
- Wortschatzausbau und Förderung des Sprachverständnisses
- Begleitende Elterncoachings
Manche Logopädie-Anbieter arbeiten mit Autismus-spezifischen Ansätzen wie z. B. dem Komm! Ass-Therapiekonzept.
Weiterführende Informationen zum Komm! Ass-Konzept sowie eine Übersicht der in Deutschland eingetragenen Therapeuten finden Interessierte online unter www.komm-ass.de
Verordnungsfähigkeit und Kostenübernahme
Logopädie zählt wie die Ergotherapie zu den anerkannten Heilmitteln. Demnach gelten die für die Ergotherapie genannten Regeln auch für Logopädie.
Tiergestützte Therapie
Kinder mit ASS unterscheiden sich in ihrem Erleben und Verhalten zum Teil deutlich von gesunden Kindern. Erfahrungswerte zeigen, dass mit einer ergänzenden tiergestützten Therapie häufig gute Erfolge erreicht werden.5 Der tierische „Co-Therapeut“ ist unvoreingenommen, authentisch, empathisch und hat keine Erwartungen an den kindlichen Patienten, wodurch dieser sich oftmals leichter öffnen kann.
Therapietiere
In der Praxis kommen verschiedene Tierarten wie Hunde, Esel, Alpakas oder Pferde zum Einsatz. Die therapeutische Arbeit mit Pferden, die sogenannte Hippotherapie, ist dabei in Deutschland die bekannteste und bestuntersuchte tiergestützte Therapie, gefolgt von der Therapie mit Hunden.
Anbieter
Die Bezeichnung „tiergestützte Therapie“ ist nicht geschützt. Daher sollten Betroffene bei der Suche nach einem geeigneten Therapeuten bzw. einer Einrichtung auf die Qualifikation des Anbieters achten. Dieser sollte eine medizinische, pflegerische, heilmedizinische oder pädagogische Ausbildung sowie eine Zusatzqualifikation zur Fachkraft für tiergestützte Therapie und Pädagogik haben. Ferner sollte die Ausbildung der Tiere nur mit tiergerechten Methoden erfolgen und es sollten die Vorgaben des Tierschutzgesetzes, die Bedürfnisse sowie die physische und psychische Belastbarkeit der Tiere berücksichtigt werden.
Auf der Internetseite des Berufsverbandes Tiergestützte Therapie, Pädagogik und Fördermaßnahmen e. V. finden Betroffene Kontaktdaten qualifizierter tiergestützter Therapeuten und Einrichtungen: www.tiergestuetzte.org
Kostenbeteiligung bzw. -übernahme
Trotz vieler positiver Erfahrungsberichte werden die Kosten in der Regel nicht von den Leistungsträgern übernommen. In Einzelfällen ist jedoch eine Kostenbeteiligung über die Pflegekasse (Verhinderungspflege, Entlastungsbetrag für ein niedrigschwelliges Betreuungsangebot), das Jugendamt (Hilfe zur Erziehung) oder den Sozialhilfeträger (Leistungen zur Eingliederungshilfe) möglich.
Haben Betroffene eine Verordnung zur Physio-, Psycho- oder Ergotherapie und arbeitet der jeweilige Therapeut mit einem Tier als Co-Therapeut, kann dieser, sofern er eine Sondergenehmigung der Krankenkassen hat, einen erhöhten Kostensatz abrechnen.
Medikamentöse Behandlung
Die Kernsymptome einer ASS lassen sich mit Medikamenten kaum beeinflussen. Allerdings kann bei Begleitsymptomen oder -erkrankungen eine medikamentöse Behandlung erforderlich sein. Sind Verhaltensauffälligkeiten wie Selbst- und Fremdaggression, Stereotypien und Wutanfälle auf andere Weise nicht ausreichend therapierbar, können sie für begrenzte Zeit (max. 6 Wochen) mit atypischen Neuroleptika behandelt werden. Bei depressiven Verstimmungen können Antidepressiva die Gefühlslage stabilisieren. ADHS-Medikamente können bei Symptomen wie Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität helfen, die bei ca. 20-45% der Patienten beobachtet werden. Weitere ggf. vorliegende Begleiterkrankungen wie Epilepsie sollten mit den jeweils dafür vorgesehenen Präparaten (z. B. Antiepileptika) therapiert werden.
Verwandte Artikel im neuraxWiki:
Frühförderung bei Kinder mit Autismus
Eingliederungshilfen für Kinder und Jugendliche mit Autismus
Rehabilitationsmöglichkeiten bei Autismus
1 „Regionalverbände und Mitgliedsorganisationen“. Autismus Deutschland e. V. Abgerufen unter https://www.autismus.de/ueber-uns/struktur-des-bundesverbandes/regionalverbaende-und-mitgliedsorganisationen.html
2 „Psychoedukation bei Autismus Spektrum Störungen.“ H.Bell und J. Sinzig, Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, LVR-Klinik Bonn. Abrufbar unter: https://www.bofoek.de/archiv/2012/Psychoedukation.pdf
3 „Sozialtraining in der Gruppe für Kinder und Jugendliche mit einem Asperger-Syndrom oder Hochfunktionalem Autismus - Literaturanalyse und Praxisreflexion“. A. Eckert und F. Volkart. Zeitschrift für Heilpädagogik, Ausgabe 8, August 2016, S. 369
4 „Autismus“. Deutscher Bundesverband für Logopädie e.V. Abrufbar unter: https://www.dbl-ev.de/logopaedie/stoerungen-bei-kindern/stoerungsbereiche/komplexe-stoerungen/autismus/
5 „Tiere in der Autismus-Therapie.“ B. Tschochner. Referat zum Thema "Tiergestützte Therapie" anlässlich des zehnjährigen Bestehens des Vereins "Tiere helfen Menschen, e.V." in Würzburg. Abrufbar unter: https://www.tiergestuetzte-therapie.de/pages/texte/wissenschaft/tschochner/tschochner_autismus.htm