Zuletzt aktualisiert am 14. Februar 2023

Autismus

Autismus ist eine Entwicklungsstörung des zentralen Nervensystems. Statt Autismus wird heute meist der Oberbegriff Autismus-Spektrum-Störung (ASS) für verschiedene Unterformen und Ausprägungen verwendet.

Experten gehen davon aus, dass weltweit 0,9-1,1% der Bevölkerung von einer ASS betroffen sind. Neueren Untersuchungen zufolge tritt sie bei Jungen 2-3 Mal häufiger auf als bei Mädchen. Bei beiden Geschlechtern bestehen oft begleitende neurologische Störungen und Verhaltensauffälligkeiten.

Kernsymptome und Ausprägungen

Bei einer ASS ist die neuronale und psychische Entwicklung beeinträchtigt. Der Begriff „Spektrum“ bezieht sich auf die unterschiedlichen Symptome und Ausprägungen, die bei einer autistischen Störung auftreten können. So sind manche Autisten nur leicht beeinträchtigt, andere haben eine Schwer- oder Mehrfachbehinderung.

Als Kernsymptome einer ASS gelten 3 charakteristische Hauptkriterien:

  1. Störung in der Beziehung zu Menschen und der sozialen Interaktion
  2. Defizite in der verbalen und nonverbalen Kommunikation
  3. Neigung zu stereotypem, wiederholendem Verhalten

Häufig zeigen sich autistische Symptome bereits im frühen Kindesalter. Die Ausprägungen können sich allerdings unterschiedlich entwickeln und mit zunehmendem Alter deutlich verändern. Zudem ist es bei Kleinkindern schwierig, Symptome von Normvarianten der Entwicklung abzugrenzen. Die Diagnose wird daher meist erst im Kindergarten-Alter gestellt.

1. Störung in der Beziehung zu Menschen und der sozialen Interaktion

Häufig fällt es ASS-Betroffenen schwer, Freundschaften zu Gleichaltrigen aufzubauen und zu halten. 0ft können sie ihre Gefühle nicht gut mitteilen und verstehen die Gefühle ihres Gegenübers nicht. Es fehlt oft an sozio-emotionaler Wechselseitigkeit (z. B. kein Teilen von Freude oder Spielzeug). Autistische Personen erscheinen daher häufig in sich gekehrt und wenig interessiert am Befinden und den Interessen des Gesprächspartners.

Es kann auch zu situationsunangemessenen Kontaktaufnahmen kommen. Außenstehende nehmen dieses Verhalten oft als komisch und unpassend wahr. Menschen mit ASS reagieren darauf wiederum häufig mit Verschlossenheit und Rückzug (aktive oder passive Abwehr von Kontakten).

Beispiele

Max hat Probleme, in Kontakt mit Gleichaltrigen zu treten. Anstatt zu fragen, ob er mitspielen kann, kneift er die anderen Kinder. Lea kann das Verhalten ihrer Mitschüler nicht richtig deuten und hat Probleme, sich in sie hineinzuversetzen, weshalb sie auf Abstand geht und Interaktionen vermeidet. Emil kann sich trotz vorhandener Sprachfähigkeiten verbal nicht richtig ausdrücken und fängt an zu schreien, wenn ihm etwas nicht gefällt. Zudem nutzt er keine nonverbalen Möglichkeiten, um seine Wünsche mitzuteilen.

2. Defizite in der Kommunikation

Schwierigkeiten in der Kommunikation zeigen sich unterschiedlich. Die Sprache bei autistischen Kindern kann sich verzögert oder zunächst unauffällig entwickeln. Trotz regulärer Entwicklung kann die Sprache qualitative Besonderheiten aufweisen. Zum Beispiel werden die Personalpronomen „ich“ und „du“ verwechselt, Gehörtes wird nachgesprochen (Echolalie) oder Wörter neu gebildet (Neologismus). Auffällig ist außerdem, dass ASS-Betroffene die Sprache weniger für soziale Kommunikation oder zum Kontaktaufbau nutzen. Einfachen „Smalltalk“ zu führen, fällt ihnen meist schwer. Über ein Lieblingsthema hingegen sprechen sie gerne ausschweifend, geben anderen aber häufig nicht die Möglichkeit, zu antworten oder bemerken nicht, wenn der Gesprächspartner desinteressiert ist. Auch die nonverbale Kommunikation – also Gestik (Deuten / Zeigen), Mimik und das Halten von Blickkontakt – ist häufig eingeschränkt.
 

Beispiele

Paul weist mit seinen 4 Jahren eine verzögerte Sprachentwicklung auf und verständigt sich nur mit einzelnen Wörtern, die er nicht im sozialen Kontext wie z. B. der Wunschäußerung einsetzt. Bei Marie hingegen ist die Sprache normal entwickelt. Sie äußert sich jedoch in altmodischer Weise, was für Gleichaltrige eher seltsam klingt. Außerdem nimmt sie Redewendungen wörtlich und wundert sich z. B., warum ihre Mitschüler einen „Frosch im Hals haben“.

3. Neigung zu stereotypem, wiederholendem Verhalten

Menschen mit einer ASS neigen zu wiederholenden (stereotypen) Verhaltensmustern. Dies kann sich mehr oder weniger stark ausgeprägt in körperlichen Aktivitäten oder in der Befassung mit speziellen Interessensgebieten äußern.

Stereotype Bewegungsmuster zeigen sich z. B. durch automatisiertes im Kreis gehen, Schaukelbewegungen, Zehenspitzengang, Klopfen, Hüpfen, Flattern mit Armen und Händen oder subtilen Fingerspielen vor den Augen.

Kinder mit ASS fokussieren sich häufig auf bestimmte Themen oder Objekte und können sich dann stundenlang damit befassen. Beispielsweise sind sie fasziniert von sich bewegenden Gegenständen wie den Rädern eines Autos. Oder sie beschäftigen sich außergewöhnlich lange damit, Spielsachen ordentlich hintereinander aufzureihen und sind davon nur schwer abzulenken.

Kinder mit ASS lassen sich gerne von optischen Reizen faszinieren
Kinder mit ASS lassen sich gerne von optischen Reizen faszinieren

Generell ist ein strukturierter Tagesablauf für Menschen mit ASS von großer Bedeutung. Sie verlassen sich beispielsweise darauf, dass das Mittagessen jeden Tag um Punkt 12 Uhr auf dem Tisch steht oder dass es jeden Freitag Pizza zum Abendessen gibt. Wird diese Ordnung und Tagesstruktur durcheinandergebracht, reagieren sie häufig gestresst, aufgebracht und mit großem Widerstand.

Stereotypes Verhalten kann auch dadurch auffallen, dass sich autistische Kinder sehr intensiv und beharrlich mit speziellen, dem Alter entsprechend eher untypischen Wissensgebieten beschäftigen, z. B. mit technischen Geräten wie Waschmaschine, Staubsauger oder Netzplänen wie Zug-Fahrplänen. Im Erwachsenenalter interessieren sich Menschen mit Autismus nicht selten für Zahlen, Nummern, Ordnungssysteme oder wissenschaftliche Themen.
 

Beispiele

Johann interessiert sich für das Papsttum und beschäftigt sich mit seinen 12 Jahren ungewöhnlich hartnäckig mit diesem Thema. Markus liebt Computerspiele und setzt sich bis ins kleinste Detail mit seinem Lieblingsspiel auseinander. Seiner Familie gegenüber hält er darüber gerne lange Monologe. Jennifer hingegen dreht sich im Kreis und flattert mit den Armen, wenn sie sich freut. Maxi sortiert seine Stofftiere nach Farbe und Größe und reiht sie hintereinander auf.

Klassifikation von Autismus-Spektrum-Störungen

ASS werden derzeit nach der ICD-10 (weltweites Klassifikationssystem für Krankheiten und Gesundheitsprobleme) in folgende medizinische Diagnosen eingeteilt:

  • Frühkindlicher Autismus
  • Asperger-Syndrom
  • Atypischer Autismus

Die eindeutige Klassifizierung und Abgrenzung der Diagnosen ist in der Praxis häufig schwierig. Daher wird zunehmend der Oberbegriff Autismus-Spektrum-Störung verwendet, der alle Formen und Ausprägungen miteinschließt. Eine geistige Behinderung (IQ < 70) liegt bei etwa 50 % aller Menschen mit ASS vor.

Merkmale

Frühkindlicher Autismus

Der frühkindliche Autismus manifestiert sich vor dem dritten Lebensjahr. Für die Diagnosestellung müssen alle 3 Kernsymptome (soziale Interaktion, Kommunikation, stereotypes Verhalten) einer ASS erfüllt sein. Vor dem dritten Lebensjahr sind bereits Entwicklungs- und Sprachauffälligkeiten vorhanden.

Die kognitiven Fähigkeiten können unterdurchschnittlich bis durchschnittlich oder selten auch überdurchschnittlich sein. Bei etwa der Hälfte der Kinder mit frühkindlichem Autismus liegt eine Sprachentwicklungsverzögerung vor.

Asperger-Syndrom

Personen mit Asperger-Syndrom sind in ihrer sozialen Interaktion eingeschränkt und zeigen ein stereotypes Verhalten. Im Gegensatz zum frühkindlichen Autismus treten allerdings keine Entwicklungsverzögerungen der Sprache oder der kognitiven Fähigkeiten auf. Ihre Sprache entwickelt sich meist früh und gut, kann aber durch ungewöhnliche Ausdrucksweisen auffallen. Betroffene sind in der Regel durchschnittlich bis überdurchschnittlich intelligent und interessieren sich für spezielle Wissensgebiete.

Atypischer Autismus

Ein atypischer Autismus wird diagnostiziert, wenn nur 1 oder 2 der 3 Kernsymptome und eine Entwicklungsstörung vorliegen oder alle 3 Kernkriterien erst nach dem dritten Lebensjahr auftreten. Dann wird von einem atypischen Symptombeginn oder einem atypischen Erscheinungsbild gesprochen.

Ursachen und Risikofaktoren

Die Ursachen einer ASS sind aktuell nicht abschließend wissenschaftlich erforscht. Zahlreiche Faktoren vor und nach der Geburt beeinflussen die Entwicklung und Funktion des zentralen Nervensystems (ZNS) und können dadurch zu den typischen Verhaltensweisen und kognitiven Störungen einer ASS führen.

Fehlfunktionen des ZNS können z. B. durch früh wirksame Umweltrisiken in der Schwangerschaft oder durch genetische Risikofaktoren entstehen. Dabei ist allerdings unklar, welche Gene in Kombination mit welchen Umweltbedingungen zu einer ASS führen.

Folgende Risikofaktoren sind wissenschaftlich gut belegt:

  • Genetische Einflüsse und Störungen z. B. Mutationen, aber auch Schwangerschafts- oder Geburtskomplikationen
  • Rötelninfektion in der Schwangerschaft
  • Medikamenteneinnahme während der Schwangerschaft z. B. Antidepressiva oder Antiepileptika
  • Höheres Alter von Mutter und Vater

Verwendete Quellen in diesem Artikel:

  • „Praxisbuch Autismus“. Rollett B., Kastner-Koller U., 2018.
  • Langfassung der Leitlinie "Autismus-Spektrum-Störungen im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter, Teil 1: Diagnostik", AWMF online, 2016, Abgerufen unter: https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/028-018.html
  • „Ratgeber Autismus-Spektrum-Störungen“. Cholemkery, H. et al., 2017.
  •  „Elternratgeber Autismus-Spektrum-Störungen“, autismus Deutschland e.V., 2018.
  • „Eltern von Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen“. Tröster H., Lange S., 2019.
  • „Klare Sprache statt Klischees. Wie sich die berufliche Teilhabe von Menschen mit Autismus gestalten lässt.“ REHADAT Wissensreihe, Ausgabe 08, 2019.

 

 


 

 

 

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