Zuletzt aktualisiert am 31. Januar 2022
ADHS
Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS1, ist eine der häufigsten psychischen Auffälligkeiten im Kindesalter. Oft tritt die Störung in Verbindung mit unterschiedlichen Begleitsymptomen wie Verhaltensstörungen oder Lernschwierigkeiten auf.
Internationalen Studien zufolge beträgt die Häufigkeit im Kindes und Jugendalter weltweit und auch in Deutschland etwa 5 %. Bei Jungen tritt die Störung häufiger auf als bei Mädchen. Unter Erwachsenen sind etwa 2,5 % der Bevölkerung betroffen.2
ADHS ist unabhängig von der Begabungsstruktur und vom Intelligenzquotienten (IQ). Allerdings besteht bei einer ausgeprägten ADHS-Symptomatik häufig eine Diskrepanz zwischen der tatsächlichen kognitiven Leistungsfähigkeit und dem schulischen Erfolg. Vor allem Kinder mit ADS können sogar überdurchschnittlich intelligent oder hochbegabt sein.
Die Übergänge zwischen harmlosen Normvarianten und behandlungsbedürftiger ADHS sind oft fließend. Die Störung kann sich zu einer Krankheit mit schweren seelischen und körperlichen Folgen entwickeln, falls sie stark ausgeprägt auftritt und den betroffenen Menschen schwer belastet.
Klassifikation und Diagnosestellung
ADHS wird diagnostiziert, wenn die Symptome deutlich ausgeprägt sind, mindestens 6 Monate andauern, in einem entwicklungsunpassenden Ausmaß, in 2 oder mehr Lebensbereichen und als klinisch bedeutsame Beeinträchtigungen auftreten.3 Das heißt, nicht jedes Kind, das gelegentlich unruhig ist oder einmal nicht zuhört, hat ADHS. Bei Kindern im Vorschulalter ist die Abgrenzung zu Normvarianten besonders schwierig; daher soll die Diagnose hier nur bei sehr starker Ausprägung der Symptomatik gestellt werden.
Diagnosekriterien
Spezifische Diagnosekriterien und Merkmale für die drei Kernsymptome Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität sind im internationalen Klassifikationssystem der WHO (ICD) sowie im Manual Psychiatrischer Störungen der American Psychiatric Association (DSM) festgehalten.4
Laut dem für Deutschland maßgeblichen ICD müssen alle drei Kernsymptome vorhanden sein („Einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung“). Liegt zusätzlich eine Störung des Sozialverhaltens vor, lautet die Diagnose „Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens“.

Diagnosestellung
Aufgrund des komplexen Krankheitsbildes und möglicher Begleiterkrankungen muss der Arzt bei der Diagnosestellung besonders sorgfältig vorgehen. In manchen Fällen wird zunächst eine grundlegende Untersuchung der Körperfunktionen sowie eine Labordiagnostik durchgeführt, um bei Verdacht auf begleitende oder ursächliche körperliche Erkrankungen diese ausschließen zu können.
Erste Anlaufstellen sind meist Kinder oder Hausärzte, welche die Patienten zur Diagnosestellung üblicherweise an Fachärzte oder Psychotherapeuten mit entsprechender Zusatzqualifikation für Kinder und Jugendliche und Erfahrung in der Diagnostik von ADHS weiterleiten.
Bei Erwachsenen ist eine Erstdiagnose oft problematisch, da retrospektive Angaben von Betroffenen und ihren Angehörigen häufig schwer zu erlangen sind.
Generell sollte ADHS multimodal diagnostiziert werden. Das bedeutet, die Betroffenen, ihre Bezugspersonen sowie (im Kindes- und Jugendalter) ihre betreuenden pädagogischen Fachkräfte sollten befragt werden. Dabei werden Untersuchungsmethoden wie klinische Interviews, Fragebögen oder Verhaltensbeobachtungen eingesetzt.5
Bestandteile der ADHS-Diagnostik können sein:
- Ausführliche Anamnese (Ermittlung der Krankengeschichte und des Entwicklungsverlaufs von der Schwangerschaft/Geburt an)
- Aufmerksamkeits- und Intelligenzdiagnostik
- Neurologische Untersuchung (z. B. eine Messung der Gehirnaktivität; wichtig vor allem, wenn eine Medikation angedacht ist)
- Gründliche psychologische Testdiagnostik (z. B. Diagnose-Checkliste oder ein Fragebogen zum hyperkinetischen Syndrom)
- Verhaltensbeobachtungen in unterschiedlichen sozialen Situationen (z. B. Schule, Familie, Freunde)
- Selbsteinschätzungsbogen, diagnostische Interviews (Befragung des Kindes, seiner Eltern, Erzieher und Lehrkräfte)
Abgrenzung der ADHS zu anderen Krankheitsbildern
Zu den möglichen Differentialdiagnosen gehören zum Beispiel eine intellektuelle Minderbegabung, Lernstörungen, Entwicklungsstörungen, Schilddrüsenerkrankungen, eine verwöhnende Erziehung mit wenig Arbeitsmotivation, Reaktion auf Trennungsproblematik mit schweren familiären Konflikten sowie eine Schädigung in der Schwangerschaft oder während der Geburt.6
Auch Nebenwirkungen von Medikamenten und schwere psychia trische Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen Autismus, Schizophrenie und Manie können der ADHS-ähnliche Symptome hervorrufen.7
Symptome
Üblicherweise äußern sich die drei Kernsymptome (Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität) folgendermaßen (nach ICD-10) über jeweils mindestens 6 Monate:8
Unaufmerksamkeit (mindestens 6 der u. g. Symptome)
Unaufmerksamkeit wirkt sich auf verschiedene Lebensbereiche aus. Betroffene sind häufig unkonzentriert und haben im Alltag Probleme bei selbst- oder fremdbestimmten Tätigkeiten. Sie sind oft unaufmerksam und machen Sorgfaltsfehler bei Schulaufgaben und sonstigen Arbeiten bzw. Aktivitäten. Es fällt ihnen schwer, Anweisungen nachzugehen. Ungeliebte Arbeiten, die geistiges Durchhaltevermögen erfordern (z. B. Hausaufgaben) werden vermieden. Sie leiden oftmals unter Vergesslichkeit, verlieren häufig Gegenstände und sind sehr leicht ablenkbar.
Hyperaktivität (mindestens 3 der u. g. Symptome)
Merkmale für die Hyperaktivität oder motorische Unruhe sind beispielsweise übermäßiges Zappeln mit Händen und Füßen, Herumrutschen auf dem Stuhl sowie Herumlaufen und Klettern (bei Jugendlichen und Erwachsenen entspricht dem nur ein Unruhegefühl). Das Kind ist oft unnötig laut und tut sich schwer damit, sich ruhig zu beschäftigen. Insbesondere im Vor- und Grundschulalter fällt eine extreme Ruhelosigkeit auf. Diese tritt oftmals gerade in Situationen auf, in denen von Kindern eine längere Ausdauer erwartet wird, zum Beispiel in der Schule.
Impulsivität (mindestens 1 der u. g. Symptome)
Das Hauptsymptom impulsiven Verhaltens ist plötzliches und unüberlegtes Handeln. Die Betroffenen reden übermäßig viel, ohne auf soziale Beschränkungen zu reagieren. Sie werden stark von Handlungsimpulsen geleitet und streben nach einer schnellstmöglichen Bedürfnisbefriedigung. Längeres Abwarten fällt ihnen schwer, z. B. bis man beim Spiel oder in Gruppensituationen an die Reihe kommt. Weitere Symptome sind vorschnelles Antworten, anderen ins Wort fallen oder gleichzeitiges Sprechen.
Zu diesen Symptomen können weitere Begleiterscheinungen wie Störungen des Sozialverhaltens, Angststörungen, Depressionen, TicStörungen oder Teilleistungsstörungen hinzukommen. Auch Trotzverhalten kann vorkommen und muss von einer „echten“ Aufmerksamkeitsstörung abgegrenzt werden.
Krankheitsverlauf
ADHS beginnt im Kindes oder Jugendalter, bleibt aber bei etwa einem Drittel der Betroffenen auch im Erwachsenenalter bestehen. Die Symptomatik variiert je nach Lebensalter und ist sehr individuell.
Betroffene Kinder sind unkonzentriert, leicht ablenkbar und neigen zu störendem Verhalten. Im Jugendalter nimmt ihre Unruhe ab, sie bleiben jedoch impulsiv, unaufmerksam und aggressiver als Altersgenossen. Erwachsene mit ADHS fühlen sich im Alltag unstrukturiert und vergesslich. Sie tun sich schwer, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden, und leiden unter innerer Unruhe.7
Je früher die Störung erkannt und je früher eine auf den Patienten abgestimmte Therapie begonnen wird, desto besser können die Auswirkungen von ADHS auf die Lebensführung sowie Folgestörungen verhindert werden.
Betroffene, bei denen die Erkrankung nicht diagnostiziert wird, brechen häufiger ihre Ausbildung ab oder zeigen schlechtere Leistungen in Schule und Studium. Sie haben oftmals weniger Erfolg im Beruf oder Probleme in ihrem sozialen Umfeld. Außerdem steigt ihr Risiko für Alkohol- und Drogenmissbrauch sowie für psychische Störungen (z.B. Depressionen, Ängste).

Ursachen
ADHS entsteht durch das Zusammenspiel mehrerer Faktoren. Mediziner und wissenschaftliche Experten sind heute der Ansicht, dass in erster Linie eine genetische Veranlagung und Umwelteinflüsse – vor, während und nach der Geburt – für die Störung verantwortlich sind.10
Art und Ausprägung der Symptome hängen auch vom Zusammenwirken der Einflussfaktoren ab. Beispielsweise kann die Störung bei einem Kind mit einem impulsiven Wesen (biologischer Faktor) in einer Familie mit wenig Strukturen und Halt oder fehlender „Nestwärme“ (psychogener Faktor) deutlich stärker ausgeprägt sein. Insbesondere ein negatives, wenig einfühlsames Verhalten der Mutter gilt als Risikofaktor.
Auch ein kontrollierender, zwanghafter und inkonsequenter Erziehungsstil kann die ADHS Symptomatik verstärken. Die Verhaltensauffälligkeiten können auch durch einen negativen Einfluss des sozialen Umfeldes, z. B. von Freunden (psychosozialer Faktor) mitbedingt werden.
Folgende weitere Risikofaktoren können die Entstehung von ADHS möglicherweise begünstigen:11
- Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen • Frühgeburtlichkeit und niedriges Geburtsgewicht
- Mütterlicher Alkohol- oder Tabakkonsum während der Schwangerschaft
- Infektionen
- Kontakt mit dem Schadstoff Blei oder bestimmten anderen Umweltgiften (organische Phosphate, PCB)
1 Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit wird in dieser Broschüre für die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung die Abkürzung ADHS verwendet, obgleich natürlich auch Ausprägungen der Störung ohne Hyperaktivität (H) existieren.
2 „Langfassung der interdisziplinären evidenz- und konsensbasierten (S3) Leitlinie Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter.“ AWMF online, 2017. Abgerufen unter www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/028-045l_S3_ADHS_2018-06.pdf, S. 12.
3Vgl. „Lehrbuch der Klinischen Kinderpsychologie“. Petermann, F., 2013, S. 272.
4„Diagnostische Kriterien DSM-5“. Falkai, P., Wittchen, H.-U.: Hogrefe Verlag, S. 40 ff.; „Hyperkinetische Störungen“. ICD-10-GM, 2019. Abgerufen unter: www.icd-code.de/icd/code/F90.-.html.
5"Lehrbuch ADHS". Gawrilow,C., 2016, S. 117 f.; vgl. "Kinderverhaltenstherapie". Petermann, F., 2015, S. 301.
6 "ADS". Simchen, H., 2017, S. 21.
7„Therapieprogramm für Kinder mit hyperkinetischem und oppositionellem Problemverhalten THOP“. Döpfner, M. et al., 2013, S. 42 f.
8 „Langfassung der interdisziplinären evidenz- und konsensbasierten (S3) Leitlinie Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter.“ AWMF online, 2017. Abgerufen unter www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/028-045l_S3_ADHS_2018-06.pdf, S. 19–23.
9 "ADHS im Erwachsenenalter". Krause, J., Krause, K.-H., 2014, S. 62.
10„Langfassung der interdisziplinären evidenz- und konsensbasierten (S3) Leitlinie Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter.“ AWMF online, 2017. Abgerufen unter www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/028-045l_S3_ADHS_2018-06.pdf, S.16
11 Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI); ESCAlife – Studie zur Untersuchung eines gestuften Behandlungsprogramms für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit ADHS. Abgerufen unter www.esca-life.org/was-ist-adsadhs/risikofaktoren-und-ursachen-von-adhs